Böhmischer Nebel-Gamsbock. Leider dominierte bei meinem bislang einzigen Besuch der Gämse im Lausitzer Gebirge Dunkelheit, Nebel und Regen. Ein Grund bald wiederzukehren!

Die Geschichte der Gämse in Sachsen und Nordböhmen reicht bis in das 16. Jahrhundert zurück. Die wild zerklüfteten Felsregionen der Sächsischen Schweiz dienten den Kurfürsten Sachsens schon jeher als bevorzugtes Jagdgebiet. In den Köpfen von Moritz und August von Sachsen reifte bereits damals die Idee, Gämse im Elbsandsteingebirge auszuwildern. Aus den Jahren 1555 und 1556 liegen mehrere Schreiben vor, die das Bestreben der Kurfürsten belegen, Gämse in Bayern fangen zu lassen und in Sachsen auszusetzen. Trotz aller Bemühungen scheint es aber letztendlich zu keiner Auswilderung gekommen zu sein. Die Gründe hierfür sind nicht überliefert. 

Junge Gamsgeiß am Großen Himpelsberg

Doch so ganz ging der Gedanke an Gamsböcke in den sächsischen Felswänden nicht verloren. 1690 wurde der nächste Versuch gestartet, Gämse auszusetzen. Dieses Mal handelte es sich um ein Geschenk des Erzbischof von Salzburg Johann Ernst an seinen Namensvetter, den Kurfürsten Johann Ernst III. von Sachsen. Durch Vermittlung des in Tetschen (Děčín) ansässigen Grafen Maximilian von Thun gelangten schließlich 12 Gämse aus einem Eingewöhnungsgatter in Salzburg in die Sächsische Schweiz. 
Hierzu wurde im Vorfeld ein weiteres, aufwendiges Gehege auf der Fläche des heutigen Nationalparks zischen Ostrau und Schmilka errichtet. Doch leider blieb außer einer noch heute bekannten Flurbezeichnung "Gamsgarten" von den Gämsen aus der Renaissancezeit nicht viel übrig. Bereits ein Jahr nach der Begründung des Gamsgarten verstarb Kurfürst Johann Ernst III. von Sachsen. Die Gämse gerieten schnell in Vergessenheit, da seine Söhne seine Passion für das Krickelwild nicht teilten. Aufzeichnungen aus dem Jahr 1729 besagen, dass sich Gämse noch lange Zeit haben sehen lassen, diese später aber auch "verloren gegangen und nicht mehr zum Vorschein gekommen" sind.
Starker Gamsbock am Kaltenberg
Starker Gamsbock am Kaltenberg
Gamsbock am Gr. Ahrenberg
Gamsbock am Gr. Ahrenberg
Es sollten noch einmal über 200 Jahre verstreichen, bis der nächste Auswilderungs-Versuch gestartet wurde. Initiator war dieses Mal der Böhmische Fürst Ullrich von Kinský aus Böhmisch Kamnitz (Česká Kamenice). Er ließ 1907 nördlich von Dittersbach (Jetřichovice) ein ungefähr 10 ha großes Eingewöhnungsgatter in den zerklüfteten Sandsteinfelsen errichten. Bis 1908 wurden insgesamt drei Böcke und fünf Geißen, welche aus Tirol, Niederösterreich und der Schweiz stammten, in das Gehege entlassen. Durch ernste Brunftkämpfe kamen alle Böcke, eine Geiß und ein bereits im Gatter gesetztes Kitz nach kurzer Zeit zu Tode. Daraufhin wurden 1909 noch einmal drei Gämse unbekannter Herkunft und Geschlechts im Gatter ausgesetzt. 1911 entschloss man sich schließlich, die Zäune zu öffnen, da sich die Böcke im Gatter äußerst aggressiv verhielten und sich der Standort mit einer nass-kalten Nordlage doch als eher ungünstig erwies. Insgesamt 8 Gämse gelangten damals in die Freiheit.
Doch der Gamsbestand in den Sandsteinfelsen wuchs entgegen der Erwartungen nicht an. Da man befürchtete, dass dieser wieder erlöschen könnte, wurde ein weiteres etwa 10 ha großes Gatter im Vulkangestein am Großen Ahrenberg (Javor) errichtet. Dort wurden 1913 ein Bock und zwei Geißen aus der Steiermark und dem nahen Elbsandsteingebirge ausgesetzt. Die Vermehrung funktionierte dieses Mal problemlos und so wurden 1918 die Zäune geöffnet und 15 Gämse in die Freiheit gelassen.
Gamskitz im Stangenholz
Gamskitz im Stangenholz
Gamsbock in den ausgedehnten Wäldern um den Ahrenberg
Gamsbock in den ausgedehnten Wäldern um den Ahrenberg

Hin und wieder lichteten sich die Nebelschwaden und Brunftgeschehen wurde sichtbar.

Um eine Verschmelzung der beiden Gebiete von Dittersbach und Javor zu erreichen, wurden in den Folgejahren weitere Aus- und Umsetzungen organisiert. Es kamen Gämse aus Glanegg bei Salzburg und der Steiermark hinzu. 1935 war der Bestand in Böhmen bereits auf über 100 Tiere angewachsen. 
Da sich seit 1922 Berichte von Gamsnachweisen in Sachsen häuften, entschied sich die sächsische Forstverwaltung 1936 dazu, ebenfalls Gamswild auszusetzen. Hierzu wurde ein weiteres etwa 5 ha großes Eingewöhnungsgatter am Kanstein an den Hängen des Heulenberg im heutigen Gebiet des Nationalparks Sächsische Schweiz errichtet. Ausgesetzt wurden fünf Böcke und zwei Geißen aus den bayerischen Forstämtern Oberammergau, Berchtesgaden, Reichenhall und Ramsau.
Im Jahr 1940 sorgte ein Sturm dafür, dass die Umzäunung zerstört wurde und alle Gämse in die Freiheit entkamen. Das bevorzugte Einstandgebiet blieb der Heulenberg. Doch bereits ab 1942 konnte man eine Verschmelzung mit den Gamsbeständen der Böhmischen Schweiz nachweisen.
Insgesamt wurden bis 1940 23 Alpengämse aus unterschiedlichen Regionen in Sachsen und Nordböhmen ausgewildert, welche die Grundlage für den heutigen Bestand bilden. Bereits von Beginn der Einbürgerung an lässt sich feststellen, dass die Entwicklung in den Sandsteingebieten sehr langsam erfolgte. Der Zuwachs war gering, die Winterverluste sehr hoch und eine deutliche Abwanderung in das Lausitzer Gebirge zu verzeichnen. Hier konzentrieren sich die Gämse bis heute auf den nährstoffreichen und schroffen Basaltkuppen.

Blick vom Kaltenberg (Studenec) in Richtung Osten auf die Basaltkuppen des Lausitzer Gebirges. Links hinten befinden sich die Finkenkoppe (Pěnkavči vrch) und rechts dahinter die Lausche an der Grenze zu Sachsen. Die Lausche ist mit 793m der höchste Berg des Lausitzer Gebirges. Ganz im Hintergrund der Ještěd im Jeschkengebirge bei Liberec, mit seinem auffälligen Fernsehturm. Rechts davon der Klei (Klíč) als markantester Kegel des Lausitzer Gebirges. Auf einigen dieser Gipfel konnte ich Gämse beobachten.

Gedenktafel für Josef Řezáč, der sich intensiv für den Erhalt der Böhmischen Gämse eingesetzt hat.

Die weitere Bestandsentwicklung bis heute verlief wellenförmig, wobei sich das Verbreitungsgebiet kontinuierlich verkleinerte. Auf dem ersten Höhepunkt 1945 wurden auf einer Fläche von 14.000 ha etwa 150 Stück Gamswild gezählt. Gämse kamen von der Sächsischen über die Böhmische Schweiz bis weit in das westliche Lausitzer Gebirge vor. Anschließend zeigte die Population wieder rückläufige Tendenzen, bevor sie in den 50er Jahren wieder deutlich anstieg. Dabei verkleinerte sich das Verbreitungsbiet aber weiter, die Gämse zogen sich in für sie günstigere Kerngebiete im Lausitzer Gebirge zurück. Dort stieg die Wilddichte, insbesondere rund um den Kaltenberg (Studenec) überproportional an und erreichte 1985 mit 229 gezählten Tieren auf nur noch 3.500 ha Verbreitungsgebiet ihr absolutes Maximum.
In der Sächsischen Schweiz verschwanden die Gämse als Standwild bereits in den späten 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie wurden noch zwei Jahrzehnte als Wechselwild beobachtet, bevor sie nach der Jahrtausendwende im 1990 gegründeten Nationalpark nur noch sehr selten bestätigt wurden. Der letzte solide Nachweis war ein Totfund, die Gams konnte nicht mehr laufen, weil die Hufe sichelförmig auf 20 cm Länge ausgewachsen waren. Die Mutmaßung war seinerzeit, dass die Gams sich im weichen Sand die Hufe nicht richtig ablaufen konnte.
Als weitere Ursachen für das Verschwinden wurde der wachsende Tourismus verantwortlich gemacht. Mehrfach konnte beobachtet werden, wie Gämse in den vereisten Sandsteinfelsen abstürzten, als sie vor plötzlich eintreffenden Menschen fliehen wollten. Darüber hinaus herrscht in den dunklen Schluchten der Sandsteinfelsen ein feucht-kaltes Mikroklima mit einem qualitativ schlechterem Nahrungsangebot Im Vergleich zur üppigen Vegetation auf den nährstoffreichen Böden der von den Gämsen bevorzugten Basaltkuppen. 
Dennoch wird gelegentlich von Zufallsbegegnungen mit Gamswild in Sachsen berichtet. Insbesondere aus dem Gebiet um die Lausche und Jonsdorf, von wo sogar Fotobeweise aus den letzten Jahren vorliegen.
Typischer Gamslebensraum auf den Böhmischen Basalkuppen
Typischer Gamslebensraum auf den Böhmischen Basalkuppen
Ein ähnliches Schicksal erging den Gamsböcken und -geißen in den Sandsteinfelsen des angrenzenden Nationalparks Böhmische Schweiz. Auch dort hat sich bis heute nur eine kleine Restpopulation von weniger als 20 Gämsen halten können. Vermutlich auch nur deshalb, weil die Kerneinstände um den Kaltenberg (Studenec) nur wenige Kilometer entfernt liegen.
Die aktuelle Population des Lausitzer Gebirges beträgt etwa 90 Individuen (2019). Aufgrund der geringen Fruchtbarkeit (die Wachstumsrate liegt bei einem Faktor von 0.3, gerechnet auf den Gesamtbestand), Wilderei, dem vermehrten Vorkommen von Wölfen und Luchsen und weiteren Einflüssen wie dem Klimawandel, nimmt die Zahl der Gämse stetig ab und die langfristigen Aussichten sind eher unsicher.
Die Sächsisch-Böhmische Gamspopulation gilt geographisch übrigens als die nördlichste weltweit und unterliegt in Deutschland einer ganzjährigen Schonzeit. Die nächstgelegenen Gämse leben in Richtung Westen im bayerischen Altmühltal und in Richtung Südosten im Altvatergebirge. Da Gämse sehr wanderfreudige Tiere sind, kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass es eine hypothetische Verbindung über Fernwechsel zwischen diesen Gebieten gibt. 
Ich habe im November 2021 erstmalig den Gamslebensraum im Lausitzer Gebirge besuchen können. Leider spielte das Wetter nicht wirklich mit. Die Landschaft zeigte sich in einem trüben Dauergrau mit viel Nebel und Regen. Entsprechend bin ich mit der Ausbeute an Bildern nicht wirklich zufrieden. Ein Grund bald nach Böhmen zurückzukehren. Dennoch konnte ich auf meinem Schweifzug über die Basaltkuppen immer wieder Gämse beobachten und fotografieren. Eine kleine Auswahl an Bildern findet sich auf dieser Seite. Eine Ergänzung mit weitern Bildern und Informationen folgt voraussichtlich im Frühjahr 2022.

Gamskitz im Lausitzer Gebirge

Literaturverzeichnis
    Ulrich Augst (2017): Eine Begegnung der anderen Art, SandsteinSchweizer No. 93 
    L. Briedermann (1961): Untersuchungen über das Gamswild im Elbsandsteingebiet, Zeitschrift für Jagdwissenschaft 7  
                                                   Briedermann, Still (1976): Die Gemse des Elbsandsteingebirges - Rupicapra r. rupicapra                                             
    Klaus Hertweck (2004): Zur Säugetierfauna der Lausche
 Landesjagdverband Sachsen e. V. (2013), Wildtiererfassung 2011 im Freistaat Sachsen 
    Dr. Christine Miller, Dr. Andreas Kinser, Hilmar Freiherr v. Münchhausen (2020): Die Gams in Europa, Deutsche Wildtier Stiftung                                              Dr. Dr. Christine Miller, Luca Corlatti (2014): Das Gamsbuch
Jens Posthoff, Nationalparkverwaltung Sächsische Schweiz I, Email vom 16.09.2021
    Jana Ulbrich (2019): Gämsen im Zittauer Gebirge? Es gibt sie!, Sächsische Zeitung, 14.02.2019
https://www.zobodat.at/pdf/Ber-Naturforsch-Ges-Oberlausitz_13_0067-0073.pdf
 http://krkonose.krnap.cz/apex/f?p=104:4:::NO:RP,4:P4_ID,P4_CP:2019-02-32,7
https://www.myslivost.cz/Casopis-Myslivost/Myslivost/2007/Cerven---2007/100-let-kamzika-na-Ceskokamenicku
https://msjestrabdecin.rajce.idnes.cz/100_let_kamzika_na_Ceskokamenicku_trofeje_-_2.6.-10.6.2007
https://www.lesprace.cz/casopis-svet-myslivosti-archiv/rocnik-8-2007/svet-myslivosti-c-07-07/stolete-jubileum-kamziku-na-ceskokamenicku
https://muskle.rajce.idnes.cz/Kamzik_100
https://lesycr.cz/casopis-clanek/100-let-chovu-kamzika-horskeho-v-jesenikach/

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